Ein Praktikumsbericht
In den lebhaften Straßen des unermüdlichen Tokios, umgeben von einem Meer aus fremdsprachigen Werbeschildern, fand ich mich plötzlich in einem vertrauten Umfeld wieder. „Bin ich aus Versehen doch schon zurück in Deutschland?“ dachte ich, als ich an meinem ersten Abend im Praktikum bei St. Michael saß. Wir bereiteten uns auf das Rosenkranzgebet vor, gefolgt von einer lebendigen Diskussionsrunde über die Bibel, in der eine bunte Gruppe voller Engagement und Einfallsreichtum teilnahm. Ein vertrautes Lied erklang, und plötzlich sprachen alle Deutsch. Das war der Moment, in dem ich mich in der katholischen Pfarrei St. Michael in Tokio zu Hause fühlte und anfing zu begreifen, was Auslandsgemeinden so besonders macht.
Mein Name ist Anneke Gerken, Studentin für Lehramt Englisch und Evangelische Religion sowie den Fachmaster „Ökumene und Religionen“ an der Universität Oldenburg. Nach vier Monaten intensiver Studien über Buddhismus, Shintoismus, neue Religionen, das Christentum in Japan und interreligiösen Dialog im „Interreligious Studies in Japan Program“ (kurz: ISJP) in Kyoto am Study Center des National Christian Council in Japan, führte mich mein Weg nach Tokio für ein zweiwöchiges Praktikum in die katholische Pfarrei St. Michael.
Meine bisherigen Erfahrungen mit Kirchen in Japan waren oft befremdlich gewesen. Die Vielfalt der christlich-protestantischen Gemeinden hier in Japan entspricht der Vielfalt ihrer jeweiligen Missionare, auf die sich viele noch berufen. Dazu kommt natürlich, dass es keine einheitliche Liturgie gibt, die natürlich auf japanisch noch fremder ist, auch wenn man einige Worte und Elemente wie das Vater Unser wiedererkennt.
Von Expats und Diplomaten bis hin zu Einheimischen, die Deutsch gelernt haben, fand sich nun in der Pfarrei St. Michael eine bunte Mischung von Menschen, die sich in dieser auf den ersten Blick so anders als japanischen Gemeinschaft zu Hause fühlten.
Durch das Gemeindeleben können viele Menschen nicht nur ihren Glauben praktizieren, sondern auch ein Stück ihrer deutschen Kultur bewahren. Es ist ein Ort der Begegnung, des Austauschs und der Verbundenheit – etwas, das für viele in der fremden Umgebung Japans von unschätzbarem Wert sein kann.
Meine Zeit in der Pfarrei St. Michael war nicht nur eine Erfahrung von Verbundenheit, Vertrautheit und Heimat, sondern auch eine Reise in ein überraschend großes und vielfältiges Aufgabenfeld eines Pfarrers im Ausland. Unter einer fähigen pastoral-seelsorgerlichen und kompetent vernetzenden Führung unter dem Pfarrer Mirco Quint durfte ich eine Gemeinde kennenlernen, die nicht nur das Leben deutschsprachiger Menschen in Tokyo bereichert, sondern auch durch die japanische gemeindliche Landschaft und Begegnungen mit ihr auf spannende Weise geprägt wird.
In den Wochen meines Praktikums bekam ich einen Einblick in vielfältige Angebote der Gemeinde, von der Seelsorge für deutschsprachige Katholiken bis hin zur intensiven Vernetzung mit anderen katholischen Gemeinden in Japan. Ich nahm Teil an gemeindlichen Angeboten wie der Sternsingeraktion, Bibelgesprächen oder einem ökumenischen Gemeindefrühstück. Ebenso bekam ich Einblick in den Religionsunterricht an der deutschen Schule, besuchte bei einem informellen Besuch die deutsche Botschaft, und traf bei einem Gebet zum Auftakt der Gebetswoche für die Einheit der Christen wichtige Vertreter der japanischen Kirche. Zudem bekam ich Einblicke in den vielfältigen Arbeitsbereich eines Auslandspfarrers, der sich eben nicht nur mit gemeindlichen Aufgaben beschäftigt, sondern auch im stetigen Gespräch mit der deutschen Botschaft und dadurch auch großen deutschen Firmen, sowie Ansprechpartner und Seelsorger für alle nach Japan gekommenen Deutschen ist, wie etwa einer Familie, die unter Folgen des Erdbebens am 01. Januar 2024 litt.
In nur zwei Wochen konnte ich inhaltlich und persönlich in meinem ökumenischen sowie internationalen und interreligiösen Erfahrungsfeld wachsen, als wäre ich mindestens doppelt so lange da gewesen – oder wünschte, dass ich es gewesen wäre. Meine Zeit in der St. Michael Pfarrei zeigte mir die Vielfalt und Lebendigkeit einer internationalen Gemeinde.
Für mich hat St. Michael möglicherweise eine Art Brücke repräsentiert. Brücken haben im Kontext Japans eine tiefe symbolische Bedeutung – sie stehen für die Verbindung, die in japanischen Gärten ermöglicht, dass die „Energie“ den ganzen Garten durchströmt, und die sowohl das Überqueren als auch das Verweilen ermöglicht. Doch der Blickwinkel spielt dabei eine entscheidende Rolle. Wenn man in die Richtung schaut, in die das Wasser fließt, richtet man den Blick auf die Zukunft, während ein Blick in die entgegengesetzte Richtung Tradition und Verbundenheit ausdrückt. Die Brückenachsen erzeugen Spannung: Wasser fließt darunter, während Menschen und Fahrzeuge darüber gehen. Nur die kleine Brücke selbst bietet Halt und Kontinuität.
Verbundenheit habe ich das Gefühl genannt, was ich in der Gemeinde gefunden habe – und ich traf eine ganze Reihe an Brückenbauern, die gemeinsam in St. Michael verweilten, in diesem Zwischenraum des Transzendenten.
Anneke Gerken
Auf dem Foto zu sehen: Anneke Gerken (rechts) und Pfarrer Mirco Quint (links). Foto: privat